Von Tieren und Menschen
Zu Angelika Freitags plastischem Werk
Menschen und Tiere sind die ältesten Themen in der Kunst überhaupt, auch das Malen und das plastische Gestalten sind tradierte künstlerische Techniken. Angelika Freitag gewinnt beiden überraschende Ausdrucksmöglichkeiten ab, die sich nicht leicht erschließen lassen, obgleich die Künstlerin weitgehend figürlich arbeitet. Bei ihr steht nicht die Zeichnung, sondern die Plastik am Beginn des Werkes. Erst im Laufe der künstlerischen Entwicklung gewinnen Zeichnungen und künstlerische Experimente auf und mit Papier mehr und mehr an Raum. Angelika Freitags Plastiken und Zeichnungen ist nicht nur das Thema gemeinsam, sondern auch das Material Papier. In den Zeichnungen erscheint es sowohl als Bildträger wie als Gestaltungsmittel, in den Plastiken wird das Papier zur Körperoberfläche, zur Haut.
Angelika Freitags Plastiken konfrontieren den Betrachter mit einem höchst eigenwilligen Kosmos von Mensch und Tier – figürlich zwar, aber weder naturalistisch noch abstrahiert. Es finden sich Tiere, Menschen und Tiere und Menschen gemeinsam. Die Tiere sind zum Teil lebensgroß, aber auch stark verkleinert, während die Menschen eher winzig daherkommen und meist in akrobatische Bewegungen versetzt sind. Wenn Mensch und Tier einander gegenüber treten, wird es still. Der Mensch wahrt Abstand zu dem Tier und scheint zu staunen, während das Tier in selbstverständlicher Gelassenheit einfach Kreatur ist.
Die Tiere – Pferde, Hunde, Panther, Elefanten, Affen, Hasen und Vögel – buckeln oder wälzen sich, meist aber wirken sie still, ja morbide und fragil. Das ist unter anderem durch die Materialien bewirkt, mit denen Angelika Freitag arbeitet.
Die Oberfläche von Angelika Freitags Plastiken ist fast immer aus verschiedenen Papieren über einem Maschendrahtgerüst gearbeitet: Dazu verwendet die Künstlerin Pergamentpapier, Gaze und Papiertücher oder gerissene Tageszeitungen oder Makulatur, die zuweilen nach dem Modellieren abgeschliffen werden. Diese Papiere werden teilweise vor der Verarbeitung bemalt und bilden eine dünne Hautschicht, die das spröde Gerüst umspannt. Gerade das Papier verleiht den Figuren eine besondere Aura, ist dieses Material doch als Schriftträger einer der ältesten Vermittler von Kultur. Das unbemalte gerissene Zeitungspapier macht die Tiere zu Zeitzeugen, es verleiht ihnen Würde und Unnahbarkeit; wollte der Betrachter sich daran geben, diese Nachrichtenfetzen zu studieren wäre dies ein ebenso vergebliches Bemühen wie die Seele des Tieres begreifen zu wollen. Während Angelika Freitag für die Körperoberfläche ihrer Pferde fast ausschließlich Rennzeitungen verwendet hat, wählte sie für den Elefanten Papiertücher, wodurch das runzelig Faltige, ja, Archaische der Haut dieses Tieres besonders gut zum Ausdruck kommt.
Zu der Verarbeitung von Papier als Hautoberfläche kann man auch Aspekte des Zerstörens und Erneuerns assoziieren, wie sie in dem Bild vom Verletzen und Heilen zum Ausdruck kommen.
Papier ist äußerst empfindlich, und es vergilbt mit der Zeit. In Angelika Freitags Arbeiten veranschaulicht die filigrane Papierhaut den ständigen Grenzgang zwischen Leben und Tod, das Geworfensein der Geschöpfe, die Ambivalenz von Sein und Zeigen, und sie lässt die Wesenhaftigkeit des Lebendigen erahnen, das jeweils in Erscheinung tritt.
Diese Tiere sind äußerst scharf beobachtet, jede Nuance ihrer Körperhaltungen ist stimmig und ausdrucksvoll, und selbst in der Menge, in der sie die Regale des Ateliers bevölkern bleiben sie Individuen.
Tiere sind nicht nur unser Gegenüber, unser alter ego, in dem wir uns spiegeln. Die Faszination der Tierbeobachtung liegt auch darin begründet, dass wir mit unserem eigenen Tiersein konfrontiert werden. Freitags Tiere sind weder sensationell noch beschaulich, sondern in sich ruhend, immer sie selbst, zuweilen komisch, zuweilen befremdlich, und immer lauscht ihnen die Künstlerin ihre typischen Verhaltensweisen ab. Das lässt sich besonders gut beobachten an dem kleinen Pferd, das sich soeben auf die Vorderbeine niederlässt, um sich hinzulegen. Angelika Freitag erfasst einen einzigen Moment eines eigentlich fließenden Bewegungsablaufes, der wie ein „still“ im Film fixiert ist.
Genau darin äußern sich Angelika Freitags künstlerische Absichten: Ihr geht es um die Gratwanderung zwischen Ruhe und Bewegung, Stille und Unruhe, Innen und Außen, von Körper und Seele, um die schmale Grenze zwischen Leben und Tod, die sie durch das Morbide und Fragile ihrer Materialien und das subtile Innehalten von Bewegungsabläufen spürbar macht. Das entspricht ihrer sehr persönlichen und sehr distanzierten Sicht auf Menschen und Tiere und deren Wesenhaftigkeit. Eine Annäherung kann nur dann entstehen, wenn jeder seine Eigenart bewahren kann.
Marlene Baum 2009/2021